Übertragung und Gegenübertragung in der Psychotherapie

Die Übertragung ist eine Erscheinung, die jeden von uns im Alltag begegnet, daher wird sie auch als alltagspsychologisches Phänomen bezeichnet. Darunter wird das unbewusste „Hineinlesen“ von Erwartungen, Wünschen, Bedürfnissen, Befürchtungen, etc. in eine andere Person verstanden. Das Besondere dabei ist, dass diese Erwartungen eigentlich uns sehr nahestehenden Menschen, etwa den Eltern gegolten hatten, diese von ihnen aber nicht erfüllt wurden. So suchen wir uns Ersatzpersonen, welche diese Bedürfnisse befriedigen „sollen“. Daran ist erst mal nichts Ungewöhnliches und erst recht nichts Pathologisches. Es sei denn, die Übertragung verlässt den normalen Rahmen und wird zu einer übertriebenen Übertragungsliebe. Besonders häufig kommt diese im psychotherapeutischen Setting vor.

Meist handelt es sich um unerfüllte positive Erwartungshaltungen

Die Inhalte dieser Erwartungen an die Ersatzpersonen sind meist rein wunschhaft und bleiben in der Regel unbefriedigt. Ein typisches Beispiel ist, dass der Partner die auserwählte Person für die Übertragung ist und wir auf ihn, das auf die Vergangenheit gerichtete Wunscherfüllungspotenzial richten. Da der Partner uns aber nicht das geben kann, was wir uns von unseren Eltern gewünscht hätten, bleibt es vorwiegend bei der unerfüllten Erwartungshaltung. Zur besseren Verdeutlichung folgt ein Beispiel:

Susanne wird von ihrem Chef immer wieder kritisiert, abgewertet und ungerecht behandelt. Eigentlich hätte sie jeden Grund dazu, auf ihn wütend zu sein und ihm so gut es geht, aus dem Weg zu gehen. Stattdessen sucht sie immer wieder seine Nähe, gibt sich extra viel Mühe, macht Überstunden, nimmt Arbeit mit nach Hause, bringt ihm Kaffee und so weiter. Jedes Mal, wenn er sie aufs Neue unfair behandelt, gibt sie sich noch mehr Mühe, um ihn ein Stück mehr zu gefallen. Tatsächlich möchte sie aber nicht die Zuwendung und Bestätigung von ihrem Chef, sondern von ihrem Vater. Diese hat sie als Kind nie bekommen, obwohl sie sich so sehr danach sehnte. Sie überträgt die Gefühle, die sie ihrem Vater gegenüber hat, auf ihren Chef.

Übertragung im therapeutischen Kontext

Oftmals werden sich gar keine nahestehenden Menschen für die Übertragung „ausgewählt“, sondern Personen aus dem Arbeitsleben, Lehrer/-innen, Ärzte/-innen und vor allem Psychotherapeut/-innen. Da sind plötzlich Menschen, die zuhören, die sich Zeit für einen nehmen und die zumindest an unserem Wohlergehen interessiert scheinen. Der Klient/ die Klientin, richtet seine/ihre Gefühle, Erwartungen und Wünsche auf den Therapeut/ die Therapeutin. Im therapeutischen Kontext ist das normal, es wird sogar teilweise als Voraussetzung für eine erfolgreiche Psychotherapie angesehen. Allerdings muss hier seitens der Therapeut/innen gut aufgepasst werden, da dies schnell zu einer richtigen Übertragungsliebe führen kann und diese nach Beendigung der Therapie wieder aufgelöst werden muss. So können sich bei einer Klientin, die sich von ihrer Therapeutin verstanden und wertgeschätzt führt, plötzlich Muttergefühle für die Therapeutin entwickeln. Sie erfüllt auf einmal das, was ihre Mutter nie tat und so überträgt sie all ihre Gefühle und Wünsche der Mutter gegenüber auf die Therapeutin. Auch ein Liebesgefühl ist dann nicht ungewöhnlich. Wichtig ist nur, dass diese Gefühle thematisiert und in die therapeutische Arbeit aufgenommen werden. Nur so lässt sich die Übertragungsliebe am Ende auch auflösen, ansonsten wäre das für die Patientin eine enorme Belastung und könnte durchaus auch Trennungsschmerz und Liebeskummer bedeuten. Natürlich bleibt das Liebesbedürfnis trotzdem unerfüllt, die Therapeutin kann ihrer Patientin nicht das geben, was sie sich von ihrer Mutter wünscht. Wird die Übertragungsliebe aber Teil der Therapie, kann sie sehr wertvoll und voranbringend sein.

Auch eine Gegenübertragung ist möglich

Der Vorgang der Gegenübertragung beschreibt den Prozess der Übertragung nur in umgekehrter Weise. Das heißt, der Therapeut/ die Therapeutin entwickelt positive oder negative Gefühle gegenüber dem Klient/ der Klientin, indem die eigenen Erwartungen auf ihn/sie übertragen werden. Das kann zum Beispiel geschehen, in dem er/sie emotional auf Verhaltensweisen des Patienten/ der Patientin reagiert, die aus dem Übertragungsprozess resultieren. Natürlich ist das im Gegensatz zur Übertragung auf Patientenseite ein Störfaktor der Therapie, den der Therapeut/ die Therapeutin für sich aufarbeiten muss.